Mein Lieblings-Herbstgedicht ist von Friedrich Nietzsche und ein sprachliches Experiment. Wer nur ein ganz klein wenig empfänglich für die Wehmut der Vergänglichkeit ist, oder wer sich nach jemand Unerreichbaren sehnt, dem wird dieses Gedicht zu Herzen gehen.
Ich stelle mir immer vor, Herr Nietzsche hätte dieses Gedicht recht ungestüm und schnell hingekritzelt, ohne lang zu überlegen, mit Blick durch ein Fenster auf einen knorrigen Apfelbaum, an dem noch rote Äpfel hängen. Paradieses-Äpfel, die nicht gepflückt und verzehrt wurden, zwei Körper, die sich nicht gefunden haben, und nun zittert. fällt die Frucht, die ihre Erfüllung nicht gefunden hat. Dahinter ein entlaubter, novemberlicher Wald, und die bleiche Sonne, die müde über einem braungrauen Hügel hängt.
Die eigenartigen unaufgelösten Anführungszeichen in der langen Strophe erscheinen mir etwas affig. Genau deswegen nehme ich aber gern an, dass Herr Nietzsche den Text in einem fiebrigen Sehnsuchts-Anfall geschrieben und nicht lang überlegt hat. Man darf ja nicht vergessen, dass er wahrscheinlich noch mit einer Feder geschrieben hat, und dass Dada und Expressionismus noch ausstanden. Andererseits stellen sie formal etwas Unaufgelöstes dar, was sich inhaltlich durch das ganze Gedicht zieht. Durch die immer wieder neuen Anführungszeichen fühlt es sich so an, als ob das lyrische Ich (oder: die Sternenblume) immer wieder neu ansetze zu sprechen, wie ein Sterbender, der immer noch einmal einen Satz herausbringt, mit dem er selbst gar nicht mehr gerechnet hat. Also passt es schon wieder. Aber nun lest selbst, was ich für eines der großartigsten Herbst-Gedichte überhaupt halte:
Friedrich Nietzsche
Der Herbst
Dies ist der Herbst:
Der – bricht dir noch das Herz!
Flieg fort! flieg fort!
Die Sonne schleicht zum Berg
und steigt und steigt
Und ruht bei jedem Schritt.
Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
der Wind sein Lied:
die Hoffnung floh,
er klagt ihr nach…
Dies ist der Herbst:
Der – bricht dir noch das Herz!
Flieg fort! flieg fort! –
O Frucht des Baums,
du zitterst, fällst!
Welch ein Geheimnis lehrte dich
die Nacht,
daß eisger Schauder deine Wange,
die Purpur-Wange deckt? –
Du schweigst? antwortest nicht?
Wer redet noch?
Dies ist der Herbst:
Der – bricht dir noch das Herz!
Flieg fort! flieg fort!
„ich bin nicht schön“
– so spricht die Sternenblume -,
„doch Menschen lieb ich
„und Menschen tröst ich:
„sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
„nach mir sich bücken,
„ach, und mich brechen:
„in ihrem Auge glänzt dann
„Erinnerung an Schöneres als ich,
„Erinnerung an Glück, an Menschen-Glück: –
„- ich sehs, ich sehs, und sterbe so!“
Dies ist der Herbst:
Der – bricht dir noch das Herz!
Flieg fort, flieg fort!
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