Es ist so zart wie die Zärtlichkeit und ein wenig kryptisch, Rilkes Gedicht “Vorfrühling”. Es erfasst die Ahnung des Aufbruchs, der in der Natur gerade vor sich geht. Und, wie immer in Naturgedichten, ist die Natur ein Sinnbild für eine Geistes- oder Gefühlsverfassung des Menschen.
Vorfrühling
(Rainer Maria Rilke)
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
Welche Art von Neuem, Aufbrechendem im Menschenleben wird hier versucht zu erfassen? Ein erahntes oder erwünschtes Ereignis? Ein neues Gefühl? Eine Erkenntnis? Eine aufkeimende Liebe, oder eine Gegenliebe, mit der das lyrische Ich nicht mehr gerechnet hat?
Mir fällt, wenn ich das Gedicht noch einmal auf mich wirken lasse, spontan die Stimmung einer Frau ein, die ahnt oder sich wünscht, dass sie schwanger ist. Vielleicht wegen des “kleinen Wassers”, das “die Betonung ändert”? Vielleicht wegen der Worte “Zärtlichkeit” und “Schonung”, vielleicht auch, weil für mich “Härte schwand” bedeutet: “Rundung kommt”, empfinde ich das Gedicht als ein zutiefst weibliches, auch wenn die letzten beiden Zeilen phallisch anmuten.
Das ist das Schöne an Gedichten: Die junge Frau, die nicht weiß, ob sie sich verliebt hat, wird dieses Gedicht für ein zartes Liebesgedicht halten. Die Frau, die sich auf ein Baby freut, könnte die Gefühle einer Schwangeren darin sehen. Und der lüsterne Mann wird vielleicht Verführungsversuche einer schönen Frau erkennen.
Verratet es mir: was seht Ihr in diesem Gedicht?
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